- Mit Vorsicht zu behandeln: Geschichten des Unsichtbaren - Ausstellung im Palácio Sinel de Cordes, Lissabon (2020) -
Was ist Architektur? Das ist die grundlegende Frage, die sich diejenigen stellen, die sich mit dieser Disziplin beschäftigen, auch aus persönlichem Interesse. Die Antworten sind nie eindeutig oder gar endgültig, denn Architektur umfasst die Zivilisation, das heißt Wissen, Traditionen, Rituale und Bräuche, für deren Umsetzung funktionale und symbolische Orte benötigt werden.
Cuidar: Contos do Invisível, (Mit Vorsicht zu behandeln: Geschichten des Unsichtbaren; Übers. des Autors) ist das Ausstellungsprojekt, das aus dem Open Call 2020 der Future Architecture Platform hervorging und von der Trienal de Arquitectura de Lisboa in Auftrag gegeben wurde. Es handelt sich dabei um eine imaginäre Reise, die zwischen den 1960er und späten 1970er Jahren drei Länder durchquert - Italien, Estland und Slowenien - und aus Geschichten in Texten und Bildern in drei Abschnitten besteht: Geschichten der Nicht-Architektur, Geschichten des Möglichen und die Geschichte der Paperers (Papiermacher).

Ein Blick
auf die Ausstellung: Einführung
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Alle Bilder sind genaue Reproduktionen der Originale des MAXXI Museo Nazionale di Arti del XXI secolo (Rom, Italien), des Museums für Architektur in Estland (Tallinn) und des Museums für Architektur und Design (Ljubljana, Slowenien) und wurden aus Gründen der Erhaltung nicht ausgeliehen. Im Rahmen dieser Geschichten bleibt die gebaute Architektur unsichtbar, sprich die Architketur von Gebäuden, schweren Materialien, die miteinander verbunden sind, um eine solide und widerstandsfähige Struktur zu schaffen, die besetzt werden soll. Die Kuratorin, Sonja Lakić, hat eine klare Vorstellung davon, was Architektur ist: Es geht nicht um das Gebäude an sich, denn Architektur wird von Menschen für andere Menschen geschaffen, die sie besetzen, nutzen und temporär oder permanent darin leben und damit ihren Wert innerhalb der Gemeinschaft festlegen. Von denen, die sich ein Projekt vorstellen, bis hin zu denen, die es nutzen, entsteht durch Architektur ein Dialog mit der Öffentlichkeit, zwischen Menschen, die sich mit verschiedenen Bereichen beschäftigen und die für ein gemeinsames Ziel zusammengebracht werden: sich durch Architektur um den Menschen zu kümmern. Eröffnet wird die Ausstellung von den Worten von Leonhard Lapin, angebracht auf den Stufen der Ausstellungsinstallation in großen Buchstaben, als ob es das Motto an der Schwelle alter Gebäude wäre, das gelesen und verstanden werden muss, um auf das Unerwartete vorzubereiten: „Unsichtbare Architektur ist eine bewusste Art und Weise, im Raum zu sein, in Einsamkeit und Leere. Unsichtbare Architektur ist eine reale Kraft gegen die banalen Manifestationen sichtbarer Architektur, gegen Architektur ohne Geist. Es ist durch das Sein im Raum, dass wir Architektur schaffen“ (The concept of Invisible Architecture, 1978; Übers. des Autors).
Der Architekt Diego Sologuren, der das Ausstellungsdesign entworfen hat und gemeinsam mit der Kuratorin Sonja Lakić gearbeitet hat, bindet das Publikum mit einer geschickten Gesamtorganisation der Ausstellung ein, die aufgrund der Breite des Inhalts, (derer Nichtfachleute sich nicht wirklich bewusst sind) und der Vielfalt der Reproduktionen, die in verschiedenen Formaten auf Papier und Metallplatten erstellt wurden, ein Layout benötigte, das der Ausstellung Einheitlichkeit und Rhythmus verleiht. Die Stücke sind auf einer durchgehenden Plattform platziert, die den Palast aus dem siebzehnten Jahrhundert wie einen einzigen Körper durchquert. Indem er die fünf Räume nutzt, die eine typische Konfiguration der Adelspaläste der Zeit aufweisen, drückt er die Plattform bis an die Wände und lässt sie an der Tür in den nächsten Raum übergehen, um dem Schritt des Besuchers Rhythmus und Richtung zu verleihen und es ihm zu ermöglichen, die architektonische Flucht zu nutzen und zu schätzen. Es sind Holzbalken zur Unterstützung der Plattform auf dem Boden sichtbar. Sie laufen in sorgfältig ausgewählten Punkten entlang des Weges, wie z. B. der vor einer der großen Fenster im Salon, und entpuppen sich als vertikalen Ausstellungsständer, der ein Auge in Augemit dem Bild ermöglicht. Mit der Geschicklichkeit eines Puppenspielers, der die Fäden seiner Figuren in der Hand hält, spielt Sologuren mit den verschiedenen Qualitäten der Teile, indem er sie auf verschiedenen Höhen platziert und die Höhe dieser Ausstellungsplattform in jedem Raum ändert.

Geschichten des Möglichen, Überblick 1
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Geschichten
des Möglichen, Überblick
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Im ersten Abschnitt der Geschichten der Nicht-Architektur können die faszinierenden Zeichnungen von Franco Purini (geb. 1941) und Laura Thermes (geb. 1943) aus nächster Nähe betrachtet werden, fast auf intime Weise, während der Blick frei in Schwarz-Weiß-Fotos und -Zeichnungen des Teatrino Scientifico (1979) schweifen kann, einer nicht-Szene, die in alle Richtungen begehbar ist. Es handelt sich hierbei um eine ephemere Architektur des innovativen Kulturprogramm Estate Romana, das von dem Bürgermeister Giulio Carlo Argan und dem Kulturstadtrat Renato Nicolini ins Leben gerufen wurde, um die Menschen während der Anni di Piombo (wortwörtlich Blei-Jahre) wieder zurück in den öffentlichen Raum der italienischen Hauptstadt zu bringen. Die ephemere Architektur wurde als kollektiver sozialer Katalysator genutzt, der die Bürger aktiv in einen Prozess der spontanen Aneignung des Raumes einbezog und gleichzeitig die Sanierung von verlassenen oder vergessenen Räumen der Stadt ermöglichte.

Geschichten
der Nicht-Architekturen
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Franco Purini e Laura Thermes, Le meraviglie urbane del Parco Centrale, 1979
(Die städtischen Wunder des Central Park; Übers des A.)
(MAXXI Museo Nazionale di Arti del XXI secolo, Roma, Leihgabe Purini-Thermes)
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(Die städtischen Wunder des Central Park; Übers des A.)
(MAXXI Museo Nazionale di Arti del XXI secolo, Roma, Leihgabe Purini-Thermes)
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Die „Geschichten des Möglichen“ werden fortgesetzt. Texte, Fotos und Zeichnungen dokumentieren die Aktivitäten der Schule von Tallinn unter der Führung von Leonhard Lapin (geb. 1947), einem Architekten, Architekturhistoriker, Künstler und Dichter. Lapin ist ein Symbol der kulturellen Avantgarde Estlands seit Ende der 1960er Jahre. Seine Arbeit dokumentiert den zunehmenden Widerstand im Land gegen die standardisierte Baupraxis, die mit der dogmatischen Anwendung der modernen Sprache in den für den sowjetischen Kollektivismus typischen anonymen Formen verbunden ist. In den 1970er Jahren widersetzten sich immer mehr Architekten und Studenten diesem Ansatz in Diskussionen, Ausstellungen und akademischen Projekten. Konstruktivismus und Pop-Art waren die Konzepte, auf deren Basis neue konstruktive und konzeptuelle Formen entwickelt wurden.

Geschichten
des Möglichen, im Detail
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Die ausgestellten Teile werden auf der niedrigen Plattform zwischen den beiden aufeinanderfolgenden Räumen präsentiert und erscheinen im Originalformat von 1m x 1m, das für die Ausstellung „Architekturausstellung 78“ gewählt wurde, die den offiziellen Beginn der Gruppenaktivitäten markierte und zur damaligen Zeit ironisch und paradox und deshalb als revolutionär galt.
Neben der Erklärung, die als Manifest der Tallinner Schule anerkannt wurde, wird auf der Ausstellung auch die Arbeit von Sirje Runge (geb. 1950) präasentiert, die sie im Rahmen ihrer Abschlussarbeit erstellt hatte. Sie war die einzige Frau in der Gruppe.
Sie befürwortete eine Idee von Stadt, die Begegnungen zwischen Menschen und zwischen Menschen und Orten förderte und einer urbanen Realität aus personalisierbaren und interaktiven Mikroumgebungen, in denen Fernsehbildschirme, Jukeboxen und verschiedene Geräte die Menschen miteinander kommunizieren lassen sollten. Die beiden Ausstellungszeichnungen sind Axonometrien einer offenen Struktur, die aus einem orthogonalen Raster von Rohrachsen besteht und kubische Räume schafft, einige davon mit spiralförmigen Treppen durchzogen, die den vertikalen Verlauf ermöglichen und andere geschlossen durch farbige Bildschirme. Jede Zeichnung hat ihre eigene durchdachte Pop-Farbpalette, von warmen Rottönen bis zu kühlen Blautönen. Diese Strukturen waren für das Zentrum von Tallin gedacht, mit seinen totalitären Betonvorhängen, die aus Massen standardisierter und abweisender Gebäude bestehen und jegliche Vorstellung von urbaner Zugehörigkeit ablehnen. Die visionäre und avantgardistische Seite der Gruppe finden wir auch in anderen Zeichnungen, darunter eine Zeichnung für ein Bürogebäude für den Kolchos Western Fisherman“ in Haapsalu von Ain Padrik (geb. 1947), das zu einer schwebenden Struktur wird, deren Fundamentbalken an die Stützpfeiler eines städtischen Raumschiffs erinnern. Die roten Linien von Kabeln und Rohren der verschiedenen Anlagen, die chaotisch herumschweben lassen uns vermuten, dass dieses Raumschiff gerade gestartet ist. An seiner Seite schweben Wohnwürfel über der undefinierten Masse der Stadt in Schwarz-Weiß - eine Montage von Zeichnungen von Vilen Künnapu (geb. 1948), die eine Zukunft widerspiegeln, die akrobatisch-räumlichen Dimensionen zu gehören scheint, dessen unmittelbare Aktualität von der Tallinner Schule mit dem Bewusstsein, dass eine neue Ära für eine menschengerechtere Architektur anbricht, verdeutlicht wird. Andere Zeichnungen, darunter die von Jüri Okas und Avo-Himm Lover, bilden eine Landschaft aus Geschichten, die bereits als Gegenwart gelten wollten.

Sirje Runge, Designvorschlag für die Gestaltung von Plätzen im Zentrum von Tallinn, Abschlussarbeit, Estonian State Art Institut, 1975
( Estland Architekturmuseum)
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Ain Padrik, Ausstellungsbau: Bürogebäude für die Genossenschaft "Western Fisherman" in Haapsalu (nicht realisiert), 1978
(Estland Architekturmuseum)
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Vilen Künnapu,
Würfel
über die Stadt, 1978
(Estland Architekturmuseum)
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(Estland Architekturmuseum)
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Ein Abschnitt von vier Videos bereichert die Ausstellung mit Beiträgen. Unter diesen ist die unverzichtbare Erzählung von Veljo Kaasik (geb. 1938), einem der Mitglieder der später als „Tallinn 10“ bezeichneten Gruppe. Im Jahr 1975 gelang es ihnen, ihren Freund und Kollegen Tiit Kaljundi (1946-2008) dazu zu bringen, am Wettbewerb „Haus für einen Superstar“ der Zeitschrift Japan Architect teilzunehmen. Das Projekt kam zwar in die engere Wahl, gewann aber nicht und wurde 1985 in Zürich in der Architekturabteilung einer Ausstellung präsentiert, die die Freundschaftsbeziehungen zwischen der Sowjetunion und der Schweiz feierte. Während dieser Veranstaltung wurden die Architekten von Tallinn 10, über die mittlerweile in Fachzeitschriften wie Casabella geschrieben worden war, von den anwesenden Schweizer Italienern als „Separatisten“ bezeichnet, die in der künstlerischen Freiheit ihrer Vorschläge eine Dissonanz innerhalb der monolithischen sowjetischen Architektur sahen.

Ein
Frame des Videos mit einem Beitrag von Veljo Kaasik über die Gruppe Tallinn 10
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In den letzten beiden Räumen werden die Geschichten der Paperers (wortwörtlich „Papiermacher“ zu Deutsch) erzählt. Hier werden dreidimensionale Reproduktionen der Übungen gezeigt, die von den Studenten des Kurses Smer B durchgeführt wurden. Es handelt sich um Kompositionsübungen mit einem kleinen Blatt Papier von gleicher Größe. Die Arbeiten sind so akkurat wie Origami und hängen von einem Baldachin herab, der unseren Blick nach oben lenkt und eine unerwartete Konstellation von Formen und Farben bildet. Paperersist ein abwertendes Wort, das durch Verzerrung des englischen Wortes paper erfunden wurde, um die Studenten, die an dem experimentellen Kurs der Universität von Ljubljana teilnahmen, zu verunglimpfen. Der Kurs dauerte nur zwei Jahre, von 1960 bis 1961, und wurde von Edvard Ravniker ins Leben gerufen, um die Architekturlehrgänge in Slowenien zu erneuern. Dabei wurden Programme und Methoden verwendet, die von der Hochschule für Gestaltung in Ulm, an der Ravniker selbst unterrichtet hatte, inspiriert wurden. In diesem letzten Abschnitt gibt es keine Texte, abgesehen von einer kurzen Einführung zum Smer B-Kurs. Die Bilder laden uns ein, einen pindarischen Sprung zu unternehmen und über eine andere städtische Geschichte nachzudenken, die aus der Möglichkeit kollektiver Teilhabe entstehen könnte, zumal wir alle zur Stadt gehören und nicht nur diejenigen, die sie entwerfen.

Die Geschichte der Paperers, Überblick
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Die
Geschichte der Paperers, Detail
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Die
Geschichte der Paperers, Detail
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Die
Geschichte der Paperers, Detail
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Nach dem Verlassen der Ausstellung erwartet uns eine weiße Wand, eine Seite, die noch beschrieben werden muss, auf der Kinder und Erwachsene eingeladen sind, ihre Spuren mit einem nicht entfernbaren Stift zu hinterlassen. Sonja Lakić möchte, dass die Ausstellung keine definitive Darstellung von Inhalten ist, sondern eine Aufforderung, durch Bilder teilzunehmen, den Raum der Stadt kennenzulernen und neu zu erfinden, denn die Architektur gehört nicht denjenigen, die sie planen, sondern denjenigen, die sie nutzen. Und das sind wir alle.

“...la rete di linee della mano di un bambino appartiene alla strada e alla casa” (”Das Netz
aus von einem Kind gezeichneten Linie gehört zur Straße und zum Haus; Übers. des A.) (Vilen Künnapu e Juhan Viiding in Architects of the Tallinn School and the critique of Soviet modernism in Estonia, “The Journal of Architecture”, 14, 1, 2009)
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Ausstellung: Sorgfältig betreuen: Geschichten des Unsichtbaren (DE)
Cuidar: Contos do Invisível (PT titolo originale)
Kuratorschaft: Sonja Lakić
Ausstellungsdesign: Diego Sologuren
Wo: Palácio Sinel de Cordes
Wann: 15. Oktober-12. Dezember 2020
19. Nov. 2020