- Artikelrezension von Francesco Dal Co “L’uomo-linea. Un furto a Italo Calvino” (“Der Linienmann. Ein Diebstahl an Italo Calvino“, dt. Übersetzung), den ersten Projekten von Álvaro Siza gewidmet (2019) -
Das Wissen um die Herstellung - Álvaro Siza - und die Beobachtung - Francesco Dal Co.
Zwei intellektuelle Kräfte stehen sich gegenüber und zwei verschiedene Praktiken, die miteinander sprechen müssen, um sich besser zu verstehen. Sie überwinden die Schwelle des Sichtbaren und schaffen ein breites und immenses Bild Geschichte betreffend.
Sortieren, anschauen, bemerken, zeitferne Werke verbinden, deren Striche und eventuell sogar deren Absichten sich unterscheiden, und dann den Kontext berücksichtigen, aus dem es in jedem Fall auszubrechen gilt, damit die Stellung eines Archivars vermieden wird, der klassifiziert und in Schubladen sortiert, Messungen durchführt und versiegelt.

Casabella, 896, LXXXIII, 2019, SS. 98, 99
©esterdonninelli
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Teil eins. Beobachtung und Analyse. Der erste Teil des Artikels beginnt mit einer Bildbeschreibung, die als Stütze ausgewählt wurde, um über Álvaro Sizas Zeichenpraxis zu sprechen, das Laster des Lasters, wie er auch selbst gelegentlich aussagte. Es geht um einen architektonischen Entwurf für das Hausprojekt von Manuel Fernando Rodrigues Neto (1955). Eine weibliche vornübergeneigte Figur füllt fast die ganze Blatthöhe aus. Unter und hinter ihr befinden sich der axonometrischen Entwurf des Hauses und dessen Aufriss. Desweiteren steht oben rechts eine Liste der während der Bauphase zu berücksichtigenden Dinge (mosaicos, pia, portas und vieles mehr).
Dal Co weicht nicht aus. Die fragliche Zeichnung ist dem Artikel vorangestellt, ein Statement, das wir nicht länger ignorieren können. Am rechten Rand der folgenden Seite eine kleine Reproduktion des Stichs „Die Geschichte von Ruth“ (deutsche Übersetzung; orig. „Poema de Ruth“), der von Siza in denselben Jahren des Projektes angefertigt wurde und dessen Abbild den äußersten Rand der Seite einnimmt. Unser Blick wandert zu den weißen silhouettenhaften Figuren, zum Boden hin vornübergeneigt und vor schwarzem Hintergrund, um dann zurückzuspringen zu der matronenhaften Figur in der Zeichnung auf der vorherigen Seite. Francesco Dal Co beginnt uns hier als gebildeter Architekturhistoriker die Untrennbarkeit zwischen Sizas Architekturgedanken und seinem graphischen Werk tout court vor Augen zu führen.
Wir begegnen Filarete, um ihn sogleich beiseite zu lassen. Seine Allegorie der Architektur, dem Bauträger vorgestellt als kreative Mutter eines Werkbaus, erschöpft jede andere potenzielle Erläuterung der Gründe für die Figuren, deren Striche fließend und konturenreich sein können, oder auch klar und gedrückt. Solche Figuren bevölkern Sizas Architekturzeichnungen, wie auch die weißen Seiten seines unvermeidlichen Skizzenbuchs.

Casabella, 896, LXXXIII, 2019, SS. 99, Det.
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Ein Ansatzpunkt, um die Frage zu beantworten, wird von Leon Battista Alberti geboten. Was stellen diese Figuren dar, die nicht mit der Architektur verbunden sind und lebenslang seine Zeichnungen bevölkert haben? Nicht nur Matronen und Ährenleserinnen, sondern auch menschliche Figuren und Abdrücke, Objektteile sowie Reiter und Pferde, Jongleure und Vögel und so weiter. Eine Leidenschaft? Siza hätte Bildhauer sein wollen. Eine Bestrebung, die er nach den Treffens mit Carlos Ramos und Fernando Távora nicht weiterverfolgte. Trotzdem Allerdings sind Lebensdaten nicht genug, um den Sinn einer kontinuierlichen Zeichenpraxis zu erklären, die mit der Aktivität Tätigkeit des Architekten so sehr verflochten ist, dass die Zeichenpraxis eigentümlich wird.
Kehrt man zurück zur betreffenden Zeichnung, kann man erkennen, wie Dal Co beim stilistischen Unterschied zwischen der Überfrachtung der mit raschen und nachdrücklichen Strichen skizzierten Gebäude und den durchgehenden und freien Linien der Figuren verweilt, der Dreh- und Angelpunkt eines Stilwechsels, der mit Albertis errores inveni verbunden ist, worüber Alberti selbst spricht und dem Dal Co breiten Raum gibt. Dal Co identifiziert Calvino fast wie einen ante litteram- Interpreten der Zeichenpraxis.
Die(se) Abwendung vom architektonischen Objekt gilt historisch als wesentlicher Moment bei der Projektumsetzung.
Doch wie kann man das figürliche Zeichnen auf all das zurückführen, wenn man keinen einzigen Zusammenhang zwischen den Abbildungen auf dem Blatt finden kann, obwohl sie alle im gleichen Zeitraum geschaffen wurden?
Teil zwei. Apotheose. Francesco Dal Co nutzt Calvino's Worte aus der Erzählung Der Kugelschreiber aus erster Hand (orig. La penna in prima persona, 1977) um das Konzept der Apotheose zu erforschen, das sich auf den Moment bezieht, in dem das Objekt des architektonischen Projekts in das Subjekt des Zeichenakts verwandelt wird. Diese Transformation ist wesentlich, weil sie den Moment darstellt, in dem die Absicht des Architekten in einen Akt der Freiheit verwandelt wird, der unerwartete und innovative Lösungen ermöglicht. Um dieses Konzept zu veranschaulichen, präsentiert Dal Co zwei Skizzen für das Gezeitenschwimmbad in Leça da Palmeira (1957) und eine Skizze für die Zentrale von Banca Borges & Irmão in Vila do Conde (1978). Diese Skizzen sind visuelle Kontrapunkte zu seinen Argumenten, da sie zeigen, wie sich der Akt des Zeichnens vom programmatischen anfänglichen Ziel des architektonischen Projekts lösen kann und zu einem Akt der Freiheit wird.
Nach Dal Co ist der Akt des Zeichnens nicht nur ein Werkzeug zur Darstellung, sondern auch ein Mittel zur Exploration und Entdeckung. Durch das Zeichnen kann der Architekt neue Möglichkeiten erkunden und mit verschiedenen Lösungen experimentieren. Das Zeichnen ermöglicht es dem Architekten, seine Kreativität auszudrücken und die Grenzen des architektonischen Projekts herauszufordern.
Akt der kreativen und intellektuellen Freiheit, bei dem es keine emulatio bereits vorhandener ästhetischer Modelle gibt, sondern eine ununterbrochene Schöpfung in der Kontinuität eines Zeichens, das im Strich variieren kann, wie es von Dal Co gut illustriert wird, der Galileo in der Metapher des Schiffes zitiert wird, das auf seiner Fahrt entlang eines Bogens eines Kreises nicht aufhört, bei den minimalen und kontinuierlichen Variationen der Wellen zu schwingen, und am Ende wird es trotzdem einen Bogen des Kreises abdecken.
Francesco Dal Co verwendet präzise literarische Verweise, die nicht direkt mit der Architekturwelt verbunden sind, um uns zu sagen, dass man, um die Praxis des Zeichnens bei Siza zu verstehen - eine kontinuierliche und unaufhaltsame Praxis -, sie in die transversale Zeit der Kunstkritik stellen muss. Hier finden wir Michelangelo zitiert in den Römischen Dialogen von Francisco de Holanda, wo er die volle Freiheit des Künstlers bei der Schaffung von Bildern betont, die nicht die Welt repräsentieren, sondern zu ihr gehören, da die Welt sich selbst im ununterbrochenen Fluss der Bilder, die sie produziert, in Kunst, Kleidung, Geschmack, schafft. Hier ist der von Dal Co zitierte Auszug: „[...] Manchmal denke und stelle ich mir vor, dass es unter den Menschen nur eine Kunst und Wissenschaft gibt und dass dies das Zeichnen oder Malen ist, und dass alle anderen davon abgeleitet sind. Sicherlich wird man, wenn man alles, was im Leben getan wird, gut betrachtet, erkennen, dass jeder, ohne es zu wissen, diese Welt malt, sowohl beim Schaffen und Hervorbringen neuer Formen und Figuren, als auch beim Tragen verschiedener Kleidungsstücke, beim Bauen und Besetzen des Raums mit Gebäuden und bemalten Häusern, beim Bearbeiten von Feldern, beim Anfertigen von Gemälden und Schildern, bei der Arbeit auf dem Land, beim Segeln auf den Meeren, beim Kämpfen und Teilen von Legionen und schließlich bei Toden und Beerdigungen sowie bei allen anderen Handlungen, Gesten und Aktionen" (Übersetzung durch den Autor).
Hier paraphrasiert Francesco Dal Co Michelangelo mit den Worten: "Manchmal denke und stelle ich mir vor".
Artikel: Dal Co, Francesco, “L’uomo-linea. Un furto a Italo Calvino”, Casabella, 896, 04, LXXXIII, Mondadori, Milano aprile 2019, SS. 98-105.
Hier die Ausgabe 896 von Casabella
12th Mar. 2021